„Chinesen sind materialistisch orientiert, sind gleichförmig und homogen. Ihre einzigen Gesprächsthemen drehen sich um ‚Wohnungen‘ und ‚Autos‘. In ihrer Einstellung zum Leben fehlt es ihnen an jener Pluralität, wie sie der Westen aufweisen kann.“ Mit dieser These aus seinem Aufsatz „Warum es uns an einer kultivierten Lebenseinstellung mangelt“ fasste der chinesische Historiker Xiao Gongqin 2006 zusammen, was heute viele Chinesen denken: In unserer Gesellschaft geht es nur um Geld. Xiao meint: „Uns Chinesen fehlt es nicht an Weisheit, an Willenskraft, an Fließ oder an Tatenkraft. Was uns fehlt ist eine romantische Einstellung zum Leben.“ Ein Überblick von Kommentaren zu Xiaos Aufsatz von Marie-Luise Abshagen.
Xiao widerspricht der Behauptung, Chinas Materialismus hinge damit zusammen, dass die Bevölkerung so lange in Armut gelebt habe. Und dass Pluralität erst entstehen könne, sobald alle reich wären streitet er auch ab. Xiao sieht die Erklärung für die gleichförmige Lebenseinstellung der Chinesen vielmehr im Fehlen einer Religion mit Paradiesvorstellung verankert, die in anderen Gesellschaften zu einem Wertesystem geführt habe, welches über eine reine Nutzenkalkulation im Leben hinausgehe. Seiner Meinung nach hatte der ursprüngliche Konfuzianismus zwar eine ebenso ausgeglichene Lebenseinstellung im Sinn, aber da er schon früh zur politischen Ideologie entfremdet wurde, könne er keine Harmonie bringen.
Der Blogger ljbnoble greift Xiaos Gedanken über Werte in einer Gesellschaft und dem Nutzen des ursprünglichen Konfuzianismus für die Chinesen auf.
„[…] 我们是不缺少作为民族精神支柱的东西,只是我们习惯性的盲目追求,总以为从别人那里得到的“真知“才是真正的“真理“ 。… 儒家思想中许多优秀的部分,早已被我们遗忘!社会的进步带来了什么?很多时候我无法想像自己处于一个什么样的社会当中。功利性的追求已经成为生命的目标,我们无法逃脱,就只能在这个圈子里徘徊。
为什么我们的社会会变成现在的样子呢?道德与人性的沦丧,仅仅是因为社会处于转型期吗?当我们都冷漠的对待着身边的一切,我们的心在想些什么?我认为正如萧教授所言,回到儒家原典中找到些对我们有用的东西。真正优秀的特质我们民族曾经有过,现在也有很多人拥有,而我们的遗忘却要生硬的将它抹去,到底自己是为谁活着?“„[…] Uns mangelt es nicht an Dingen, die wir als moralische Stütze unseres Volkes nutzen können. Wir sind es lediglich gewohnt, blind zu folgen und immer zu denken, dass „das Wissen“, das von anderen errungen wurde, erst wirklich „die Wahrheit“ beschreibt. Viele großartige Aspekte des Konfuzianismus haben wir schon längst vergessen. Was bringt der Fortschritt unserer Gesellschaft eigentlich mit sich? Oft weiß ich selber nicht, zu was für einer Gesellschaft ich gehöre. Das Streben nach materiellem Nutzen ist zum Ziel des Lebens geworden und wir sind nicht in der Lage, ihm zu entfliehen, sondern müssen uns immer im Kreis drehen. Wie ist unsere Gesellschaft nur so geworden? Kommt der Verlust von Moral und Humanität nur daher, dass wir uns in einer Phase der Transformation befinden? Wie empfindet unser Herz, wenn wir mit allem gleichgültig umgehen? Wir wissen, dass wir genau wie es Professor Xiao geschrieben hat, zu den ursprünglichen Werken des Konfuzianismus zurückkehren und etwas nützliches darin finden müssen. Über die wirklich großartigen Eigenschaften, die unser Volk früher schon hatte, verfügen auch heute noch viele Menschen. Aber wir haben sie aus unserem Gedächtnis gelöscht. Man muss sich fragen für wen man eigentlich lebt.“
„Alter Affe“ rechtfertigt die materialistische Lebenseinstellung der Chinesen mit Verweis auf ihre Familienkultur.
„[…] 我认为的,所谓缺少特例独行的人生态度的一个原因,是中国人的家族的观念。什么意思?中国社会,中国人,从来就不是一个人。记得曾仕强教授说过,任何一个人身上要背着祖先和子孙,第三位的才会是自己。我们中国人,做什么事情,常常会想丢不丢祖宗的脸,对不对得起子孙呢? […] 为什么中国人有钱了,还想更有钱呢?荣耀祖宗,付荫子孙。[…]“
„[…] Ich glaube, ein Grund für unseren sogenannten Mangel an einer kultivierten Lebenseinstellung liegt im chinesischen Konzept der Familie. Was meine ich damit? In der chinesischen Gesellschaft ist man nie allein. Denkt dran, was Professor Zeng Shiqiang gesagt hat: Jeder Mensch trägt auf seinem Rücken seine Ahnen und seine Nachkommen, erst an dritter Stelle kommt man selbst. Wenn wir Chinesen etwas tun, überlegen wir oft, ob unsere Vorfahren dadurch ihr Gesicht verlieren könnten und ob wir es den nächsten Generationen gegenüber verantworten können. […] Warum also braucht ein Chinese mit Geld immer noch mehr Geld? Um die Ahnen zu ehren und die Nachfahren zu schützen. […]“
Ein anonymer Blogger greift das Argument der Pluralität durch einen allgemeinen Reichtum auf.
„因为美国人已经不需要再为车子房子而操劳了。但对于我们,买一套房子,买一辆车,都是不简单的事,我们大多数人都没有解决这些问题,哪里有精力去看什么哲学。我们的生活水平如果能达到他们的水平,自然会涌现出更多元的人生追求。“
„Die Amerikaner müssen für Autos und Wohnungen halt nicht mehr hart arbeiten. Aber für uns ist der Kauf einer Wohnung oder eines Autos keine einfache Sache. Die meisten Menschen hier haben diese Probleme noch nicht gelöst. Wo soll man da die Energie hernehmen, Philosophie zu lesen? Wenn unser Lebensstandard deren Niveau erreicht hat, dann werden natürlich auch viel unterschiedlichere Lebensziele entstehen.“
„Schwarzer Wal“ philosophiert über die Bedeutung des politischen Systems in Bezug auf Xiaos Thesen.
„[…] 不得不承认,我们所置身的政治制度有很大的关系。而制度的建立,和我们几千年积累下来的农业社会特有的意识有关。马克思基本上是正确的,没有经过工业社会的革命,许多东西就缺失了!我一直认为,进化不等于进步。进化应该被看作是过程,无所谓好坏。但某些东西却是有可能在向后,有些东西也真的是在向前发展的。说到底,能按照本性,简单(而绝不是复杂)地活着,就是幸福。这点在一定程度上,与贫穷和富裕无关![…]“
„[…] Man kommt nicht umhin einzugestehen, dass das politische System, in dem wir uns befinden, eine große Rolle spielt. Und dass die Entstehung dieses System mit unserem über tausend Jahre gewachsenen, für eine landwirtschaftliche Gesellschaft charakteristischen Bewusstsein zusammenhängt. Der Marxismus hat grundsätzlich Recht, dass es keine Revolution ohne das vorherige durchlaufen der Industrialisierung geben kann, da es einer solchen Gesellschaft an zu vielen Dingen mangelt. Ich denke immer, Entwicklung ist nicht das gleiche wie Fortschritt. Entwicklung muss als ein Prozess angesehen werden, der gut oder schlecht ist, wobei sich einige Dinge rückwärts und andere tatsächlich vorwärts entwickeln. Was ich eigentlich sagen will: Glück ist, wenn man gemäß seiner Natur ein einfaches (und eben nicht kompliziertes) Leben führen kann. Zu einem gewissen Grad hat das dann nichts mehr mit Armut oder Reichtum zu tun! […]“
Blogger qiao8280 findet, dass der angebliche Materialismus der Chinesen eigentlich nur damit zusammenhängt, dass man über ganz private Sachen nicht mit anderen reden möchte.
„其实每个人都有特立独行的人生态度,这并不是什么新事物。但这不能作为共同语言来交流。一个成熟的人,不能把自己真正追求的东西拿出来跟大家探讨以寻求中庸。追求往往是极端的,旁人所难以理解的,没必要解释。我们之所以在见面的时候讨论房、车之类,无非是为了能有共同语言,如同英国人见了面谈论天气。如今的中国,还是发展中国家,犹如长征中的红军,生存乃第一要义。[…]“
„Eigentlich hat jeder Mensch eine kultivierte Lebenseinstellung. Das ist doch nichts Neues. Das kann man allerdings nicht zu einem allgemeinen Gesprächsthema machen. Ein erwachsener Mensch kann doch nicht, nur um ein gutes Mittelmaß zu finden, die Dinge, nach denen er wirklich strebt, so einfach hervorbringen und mit allen diskutieren. Die eigenen Bestrebungen sind oft extrem und von anderen Menschen schwer zu verstehen. Man muss sie doch nicht unbedingt erklären. Der Grund warum wir, wenn wir zusammenkommen, über Wohnungen, Autos und solche Dinge reden, liegt darin, dass wir da eine gemeinsame Sprache haben. Das ist doch so wie bei den Engländern, die über das Wetter reden. Das heutige China ist noch immer ein Entwicklungsland und genau wie bei der Roten Arme in der Zeit des Langen Marsches ist Überleben das Allerwichtigste. […]“
Ein Blogger mit dem Namen „Ein koreanisch lernender buddhistischer Mönch“ schreibt über die gesellschaftlichen Zwänge, die einen am Ausleben seiner Träume hindern.
„事实上在暗地里真的有很多人想去追求那梦想的。但是最终总是处于一种两难的境地上,为了幸福去追求自己的梦想,却到头得到的是自己最爱的人的反对和不幸福。… 正如文中指出的那个湖南爱哲学的孩子,抛弃亲生父母去追求自己所爱,并非一般人能做到的,这代价太大。[…]“
„Tatsächlich gibt es viele Menschen, die insgeheim eigentlich gerne ihre Träume verfolgen würden. Aber dann befindet man sich im Endeffekt doch immer wieder in einem Dilemma. Wenn man seine Träume verfolgt um glücklich zu sein, dann hat das am Ende zur Folge, dass man bei den Menschen, die man liebt, Widerstand und Unglück hervorruft. … Genau wie in der Geschichte des Jungen aus Hunan, der Philosophie so sehr liebte, dass er seine Eltern im Stich lies, um diese Liebe zu verfolgen. Das ist nichts, was ein gewöhnlicher Mensch machen sollte, denn der Preis ist zu hoch. […]“
Auch „Teemond“ kritisiert, dass man seine eigentlichen Träume oft einfach nicht aussprechen kann.
„[…] 身在这个社会,有很多无可奈何。不过也许,不能否认的是,在这些谈论物质的人的心底,也许也存在着“为什么我要谈这些,我的理想追求在哪里“这样的想法。只不过大家都不说,所以也就没人说了。“
„[…] Wenn du dich in dieser Gesellschaft befindest, hast du doch bei vielem gar keine Wahl. Aber es sich lässt wohl nicht von der Hand weisen, dass im Herzen der Menschen, die über materialistische Dinge reden, auch der Gedanke existiert: „Warum soll ich darüber reden? Wo sind denn die Ideale geblieben, die ich verfolge?“ Aber weil das keiner sagt, redet man eben auch nicht drüber.“
Genauso findet auch „Sterntaler“, dass der Grund für den chinesischen Materialismus, in den Zwängen der Gesellschaft zu finden ist.
„深有同感,好好的人都被社会给同化了,当身边的同事同学都在津津有味的讨论买车买房的时候,当一个人的成功与否仅仅是拿这辈子买了几套房或是开什么车子的时候,人是很难不受影响的。这篇文章,写的很现实。“
„Ich stimme dem völlig zu. Die guten Menschen werden alle von der Gesellschaft assimiliert. Wenn die Kollegen oder Mitschüler mit Begeisterung darüber reden, wie sie sich ein Auto oder eine Wohnung gekauft haben, und wenn der Erfolg eines Menschen nur daran gemessen wird, wie viele Wohnungen er in diesem Leben gekauft hat oder wie viel Autos er gefahren ist, dann ist es schwer davon nicht beeinflusst zu werden. Der Aufsatz hat das sehr realistisch beschrieben.“
toller Eintrag 🙂 ich habe seit langem auch immer wieder über das Thema nachgedacht und mit vielen Chinesen darüber gesprochen – ich denke, dass es nur wie alles eine Frage der Zeit ist.
Obwohl Vergleiche immer hinken, aber hier ein paar Gedanken…
Ist man in Deutschland schwer krank, dann hat man eine Versicherung, die vieles abdeckt. In China hingegen musste eine Freundin ein ganzes Jahresgehalt für ihren krebskranken Vater hinlegen. Das gleiche gilt auch für das Familienverständnis. Wenn sich eine Familie alleine um die demenzkranke Mutter kümmert anstatt sie in das „Pflegeheim“ zu übergeben.
Autos, Handys und Klamotten sind auch hierzulande Statussymbole, auf die Wert gelegt wird. Die Auswüchse sind jedoch je nach Bildungsschicht und Umfeld anders – denn auch in Büroetagen oder Bibliotheken sind Macs Statussymbole
Studiengebühren, Konkurrenzdruck, „Gesicht“ sind zudem weitere „Zäune“
dazu gehört die schwache Mittelschicht….
Menschen, die wenig haben und wenig Bildung besitzen, streben nach materiellen, greifbaren Werten (Bushido lässt grüßen)
Menschen, die sehr viel haben, gewöhnen sich daran und müssen ihren Status mit Symbolen verteidigen.
Woyzeck: Ja, Herr Hauptmann, die Tugend – ich hab’s noch nit so aus. Sehn Sie: wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt nur so die Natur; aber wenn ich ein Herr wär und hätt‘ ein‘ Hut und eine Uhr und eine Anglaise und könnt‘ vornehm rede, ich wollt‘ schon tugendhaft sein. Es muß was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl!
Hallo,
danke für den Kommentar.
Es ist tatsächlich sehr interessant, über dieses Thema mit Chinesen zu sprechen. Gerade auch junge Menschen, beispielsweise Studenten, sehen sich in einer zwiespältigen Lage, da sie einerseits auch den Schritt in die Mittelklasse wahrnehmen wollen, gleichzeitig aber auch einem Werteverfall nicht weiter zusehen wollen. Selbstzweifel im ganzen Land hat ja auch der Fall des kleinen Mädchens ausgelöst, das auf offener Straße überfahren wurde und keiner zu Hilfe eilte.
China zeigt hier sehr anschaulich, wie sich zu schnelle Veränderungen auf eine Gesellschaft auswirken können. Und wo der Vergleich so einmal gezogen ist, bleibt es sicherlich spannend zu beobachten, ob sich wohl eine chinesische „68er-Bewegung“ gründen oder eine „Kapitalismus-Kritik mit chinesischer Ausprägung“ entstehen wird.
Beste Grüße,
Marie-Luise
SAC Übersetzerin
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